Eins aufs Dach
Berlin. Dem AEG-Architekten Peter Behrens hätten die emsigen jungen Leute sicherlich gefallen. Sie bauen in der nach ihm benannten Halle, auf dem früheren Werkgelände, ein Solarhaus. Aber nicht irgendeins, sondern eine Weltneuheit, die am vergangenen Wochenende mit Lastern und Tiefladern in den Garten von Schloss Versailles gebracht wurde. Hier wollen die 40 Studenten gegen 19 Teams aus aller Welt antreten und den Solar-Decathlon-Europe-Wettbewerb 2014 gewinnen.
Drei Monate lang haben Raphael Haupt, Philipp Hempel, Ruben Maris und ihre Mitstudenten ein Haus gebaut, das sie Rooftop nennen. Dachaufbau? „Ja. Schnell waren wir uns einig, dass unser Haus niemals auf einer der letzten kostbaren, freien Flächen Mitteleuropas gebaut werden dürfe S vor allem nicht, wo es doch exemplarisch sein sollte“, erzählt Mitstreiterin Arina Gabriel. Stattdessen „schauten wir, auf der Suche nach Inspiration, in den Himmel und sahen: unberührte Staubhöhlen.“
Mit der jugendlichen Prosa gemeint sind ganz einfach die ungenutzten Dachböden des umfangreichen Berliner Altbaubestands. Das ist die Geburtsstunde des Rooftops. Vom Bestand bleiben die Brandwände und der Treppenhauskern erhalten. Die vorgefertigten Teile des Baukastenhauses können mit einem Kran nach oben gebracht werden.
Auf die Idee, am Sonnenhauszehnkampf teilzunehmen, kam der Architekturstudent Alessandro Jähnicke, als er ein Austauschsemester im spanischen Barcelona absolvierte. Dort bereiteten sich seine Kommilitonen gerade auf den Solar-Decathlon-Europe-Wettbewerb 2010 in Madrid vor. Nach fünf Wettbewerbsdurchgängen in den USA und zwei weiteren in Europa wird der weltweit größte studentische Bau- und Realisierungswettbewerb in diesem Jahr im französischen Versailles stattfinden. Veranstalter sind das Französische Ministerium für Wohnungswesen sowie der dortige und der US-amerikanische Energieminister.
Die Aufgabe: ein „normales“, durchschnittliches Eigenheim ausschließlich durch Solarenergie zu versorgen. Und weil Decathlon Zehnkampf heißt, müssen die jungen Leute in zehn Disziplinen bestehen. Bewertet werden Architektur, technische Umsetzung und Konstruktion, Energieeffizienz, elektrische Energiebilanz, Komfort und Raumklima, Funktionalität des Hauses, Kommunikation, Vorfertigung und Marktpotenzial, Innovation und die nachhaltige Stadtverdichtung, die besonders im Fokus steht.
An diesem Wettbewerb teilnehmen wollte Jähnicke auch. Zurück in Berlin suchte der Student und heutige Rooftop-Projektleiter Mitstreiter. Ende 2012 hatte er eine Mannschaft aus 40 Studenten aus zwölf Fachrichtungen beisammen. „Wir sind das Dachgeschoss“ – unter diesem Motto planten die angehenden Architekten, Informatiker, Gebäudetechniker, Solarexperten, Innendesigner und Kunststudenten ihr Rooftop-Haus für Versailles. Heraus kam eine 70 m2 große Wohnung, die in allererster Linie aus Holz gebaut wurde. Die 16 mit Fotovoltaik-Modulen bestückten Fassadenelemente sind aufklappbar. Sie lassen sich vertikal nach dem Stand der Sonne ausrichten. Geschlossen dienen die Paneele als zusätzliche Dämmung. „Wie eine zweite Haut“, sagt Haupt.
Gemeinsam mit den Solarzellen auf dem Dach produziert die Hausanlage Überschüsse. „Die kann der Rooftopbesitzer an die Bewohner unter ihm verkaufen“, freut sich der angehende Wirtschaftsingenieur. Hochwertige Dachausbauten gäbe es in Berlin schon genug, doch meist hätten die schlechte thermische Leistungen.
„Die Deckenplatten im Inneren haben wir mit einem Spezialwachs versehen“, erläutern Hempel und Maris, „das gibt es so noch nirgends. Das Wachs speichert Wärme und gibt sie bei Bedarf wieder an die Umgebung ab. Bei großer Hitze kann das System auch kühlen.“ Die zukünftige Dachwohnung verfügt über drei großzügige Terrassen: eine breite Front gen Süden, ein Dachgarten im Osten und ein Aufenthaltsort im Nordwesten.
Im Kern der kleinen Wohnung mit angeschrägten Decken, die den Blick nach außen lenken, haben die Architekten einen Technikraum eingerichtet; ein Bad und eine Küchenzeile. Von der Wanne aus kann der Bewohner bei hochgeklappten Fassaden aus den bodentiefen Fenstern links und rechts die Berliner Skyline genießen. Die Wände zwischen Schlaf- und Wohnzimmer sind verschiebbar. Eine Luft-Wasser-Wärmepumpe versorgt die Fußbodenheizung und unterstützt im Bedarfsfall die Warmwassererzeugung. Das Abwasser im Ökohaus wird gereinigt und aufbereitet. Die Verkleidungen in den hellen Räumen sind aus Bambus – ein schnell nachwachsender Rohstoff.
Die allesamt ehrenamtlich tätigen Tüftler müssen ihr Haus drei Mal bauen. Version Nr. 1 entstand seit März 2014, in langen Tag- und Nachtschichten, in der Peter-Behrens-Halle auf 258 m2 Fläche. In Versailles stehen 300 m2 zur Verfügung. „Hier in Berlin haben wir die Terrassen eben kleiner gemacht“, zuckt Haupt die Schultern. Später lässt sich das Haus der Fläche des jeweiligen Dachstuhls anpassen. Nach ihrem Besuch beim Sonnenkönig in Versailles wollen die Bauherren „ihr Kind“ beim dritten Aufbau am liebsten auf das Dach der Universität der Künste in der Berliner Hardenbergstraße in Charlottenburg stellen.
Doch die Gespräche dazu sind noch nicht abgeschlossen. Rund 320.000 Euro wird der Bau eines Rooftop-Hauses kosten. „Doch das ist die Ferrari-Version“, sagt Haupt. In der Praxis ginge das auch preiswerter. Für das Modellhaus sind die Initiatoren vom Bundeswirtschaftsministerium und vielen namhaften Sponsoren unterstützt worden.
Derweil sind Alessandro Jähnicke, Raphael Haupt, Philipp Hempel, Ruben Maris und all die anderen im Schlossgarten von Versailles. Vier Laster und ein Tieflader haben den Rooftop nach Frankreich gebracht. Noch bis zum 14. Juli müssen sie der Jury vorführen und beweisen, dass ihr Konzept praxistauglich ist. „Wir wohnen da“, sagt Haupt, „wir kochen, spülen das Geschirr, müssen jeden Tag Wäsche waschen … eben ganz normal leben.“ Durchsetzen müssen sich die Berliner gegen 20 Mitbewerber aus 16 Ländern.