Fachkräfte und Fachfremde für den Klimaschutz
146.000: So viele Arbeitskräfte, die die Corona-Krise um ihren Job bringt, könnten laut einer Studie des Analyseinstituts Prognos im Gebäudesektor eine neue berufliche Heimat finden. Dort wird schließlich jede helfende Hand, die an der energetischen Durchsanierung des Gebäudebestands mitwirkt, dringend gebraucht. Was auf dem Papier nach einer Win-win-Situation klingt, hat in der Realität allerdings ein paar Haken.
Wegen Corona werden insgesamt rund 650.000 Beschäftigte überflüssig, schätzt das Institut Prognos. Davon wären besagte 146.000 für Tätigkeiten im Gebäudesektor geeignet – denn dort fehlen Fachkräfte, die die politisch gewollte Umstellung auf einen klimaneutralen Gebäudebestand bis 2050 schultern helfen. Die Menschen, die krisenbedingt ihre Jobs verloren haben oder zu verlieren drohen, sind allerdings nicht ewig verfügbar: Wenn sich die Wirtschaft 2023/2024 wieder erholt, wird auch in gebeutelten Branchen die Nachfrage nach Arbeitskräften wieder anziehen. Arbeitgeber aus dem Gebäudesektor müssen also zusehen, dass sie passende Fachkräfte und Quereinsteiger dieses oder spätestens kommendes Jahr zu sich locken.
Das ist im Kern das Ergebnis der Prognos-Studie: „Fachkräftesicherung im Gebäudesektor – Arbeitskräftepotenziale unter Berücksichtigung der wirtschaftlichen Folgen der Covid-19-Pandemie“. Das Analyseinstitut hat die Untersuchung im Auftrag des Bundesverbands energieeffiziente Gebäudehülle (Buveg) und des Bundesverbands Erneuerbare Energie erstellt.
Unter dem Begriff Gebäudesektor subsumiert Prognos alles, „was mit energetischer Gebäudesanierung bzw. energetischen Maßnahmen zusammenhängt“, erklärt Markus Hoch, einer der Autoren der Studie. „Von der Planung über die Herstellung und den Handel bis zur Installation.“ Gemeint sind Architektur- und Ingenieurbüros, die Sanierungsvorhaben planen. Sodann Baustoffproduzenten und Hersteller der Gebäudetechnik, z.B. von Heizungssystemen, sowie Großhändler. Last but not least denken die Studienautoren auch an all die Firmen, die Sanierungen am Gebäude (Hülle nebst Technik) vor Ort durchführen, kurzum: das Ausbaugewerbe und das SHK-Handwerk (Sanitär, Heizung, Lüftung, Klima). Hoch- und Tiefbau werden dem Gebäudesektor dagegen ausdrücklich nicht zugeordnet.
Die 146.000 potenziellen Arbeitskräfte, die für den so verstandenen Gebäudesektor infrage kommen, verteilen sich nach Analysen von Hoch und seiner Kollegin Claudia Münch auf zwei Töpfe. In dem einen Topf stecken ca. 106.000 Personen, die einen Beruf erlernt haben und ausüben, der auch auf dem Gebäudesektor nachgefragt wird, z.B. Elektrotechniker, aber zuletzt in einer anderen Branche tätig waren, z.B. der Autoindustrie.
Die Autoindustrie als Mitarbeiterquelle
In dem anderen Topf befinden sich Menschen, „deren erlernter bzw. ausgeübter Beruf zwar nicht direkt im Gebäudesektor nachgefragt ist, der aber zumindest eine qualifikatorische oder tätigkeitsbezogene Nähe zu den Anforderungen des Gebäudesektors aufweist“, wie Münch es formuliert. Als Beispiel nennt die Expertin den möglichen Wechsel Erwerbstätiger mit Geologie-, Geografie- oder Umweltschutzberufen, die mit einer vergleichsweise hohen Wahrscheinlichkeit in die Berufsgruppe Bauplanung, Architektur, Vermessungsberufe wechseln könnten. Und das ist beiden Töpfen auch gemeinsam: Arbeitslosigkeit bzw. drohende Arbeitslosigkeit (Stichwort: Kurzarbeit) beflügeln die Wechselwilligkeit.
Ein besonders großes Arbeitskräftepotenzial für den Gebäudesektor loten die Studienautoren in der Berufsgruppe Maschinenbau und Betriebstechnik mit etwa 23.000 Personen aus. Zum einen deshalb, weil diese Berufsgruppe mit 1,6 Mio. Beschäftigten in Deutschland sehr groß ist. Zum anderen aber auch, weil viele Erwerbstätige dieser Berufsgruppe in Branchen arbeiten, die besonders hart von der Krise getroffen wurden, beispielsweise im Fahrzeugbau. Berufsgruppen, in denen etwa 10.000 Personen zumindest auf dem Papier für einen Wechsel in den Gebäudesektor in Betracht gezogen werden könnten, sind die Metallbearbeitung, die Elektrotechnik, die technische Produktionsplanung und -steuerung sowie Einkauf und Vertrieb.
Überschuss hier, Mangel da: In einer Analyse von 2018 bezifferte Prognos den erwarteten Fachkräftemangel allein im Bereich Sanitär, Heizung, Lüftung, Klima für das Jahr 2030 auf etwa 30.000 Köpfe – ohne zusätzliche Investitionen in die Energiewende. Mit verstärkten Investitionen in die Energiewende würden 2030 weitere 17.000 Fachkräfte im SHK-Handwerk fehlen. Insgesamt braucht es für die Umstellung in einen klimaneutralen Gebäudebestand bis zum Jahr 2050 und eine Erhöhung der Sanierungsrate von 1% auf 3% ca. 200.000 zusätzliche Arbeitskräfte, wie Buveg-Geschäftsführer Jan Peter Hinrichs mit Verweis auf eine ältere Untersuchung von 2017 vorrechnet. „Die aktuelle Studie zeigt, dass dieses Potenzial vorhanden ist.“
Vorhanden schon, aber nicht per Knopfdruck abrufbar: „Der tatsächliche Wechsel von einer Branche in die andere oder von einem Beruf in den anderen ist natürlich von vielen Faktoren abhängig wie beispielsweise der regionalen Mobilität von Fachkräften und gelingt immer nur mit begleitenden Maßnahmen“, stellt Prognos-Expertin Claudia Münch klar.
Einen nicht ganz unwesentlichen Grund, warum Menschen, die Münch und Hoch als potenzielle Wechsler ins Auge fassen, nicht schon längst im Gebäudesektor arbeiten, spricht Hinrichs an: „In der Autoindustrie gab es ein ganz anderes Lohnniveau als in der Baubranche. Wir sehen da einen Angleichungsprozess – aber natürlich nicht auf das Niveau, das die Autoindustrie heute hat.“ Ein allgemein höheres Lohnniveau nützt allerdings nichts, wenn „ein Teil der Leute, gerade im Fahrzeugbau, künftig nicht mehr benötigt wird“.
Luft nach oben gibt es im Gebäudesektor auch in puncto Familienfreundlichkeit, Flexibilität und Work-Life-Balance: „Viele Handwerksunternehmen sind sich dessen bewusst, und da gibt’s auch schon viel. Den Unternehmen ist aber auch klar, dass sie da noch attraktiver werden müssen“, räumt Hinrichs ein.